Sozialrecht

Krankengeld trotz verspäteter Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung?

Chemnitz/Berlin (DAV). Damit man fortlaufend Krankengeld bekommt, sollte man die Arbeitsunfähigkeit lückenlos feststellen lassen. Die verzögerte ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit hat der Versicherte selbst zu verantworten, wenn er die Arztpraxis verlässt, weil sie ihm zu voll war, und er nicht warten wollte. Etwas anderes gilt, wenn die Praxis den Termin verschiebt. Dies entschied das Landessozialgericht Chemnitz am 26. Januar 2022 (AZ: L 1 KR 293/21).

Die Entscheidung beruhte noch auf der alten Rechtslage, informiert die Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV). Demnach haben Krankengeldbezieher, die nur noch kraft eines Krankengeldanspruches versichert sind, einen Monat länger Zeit, wenn es sich um dieselbe Krankheit handelt. Dies gilt jedoch nicht für die Versicherten, die wegen eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses pflichtversichert sind. Dann gilt die „Fristverlängerung“ nicht, warnen die DAV-Medizinrechtsanwälte.

In dem vom Landessozialgericht entschiedenen Fall ging der Versicherte am Tag des Ablaufes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in die Praxis seiner Hausärztin. Weil diese völlig überfüllt war, hätte er mit erheblichen Wartezeiten rechnen müssen. Wegen seines Gesundheitszustandes (Schmerzen) wollte er sich das nicht zumuten und verließ die Praxis wieder. Am Folgetag war die Hausarztpraxis regulär geschlossen, die Arbeitsunfähigkeit wurde sodann am übernächsten Tag festgestellt.

Die Krankenkasse stellte die Krankengeldzahlung wegen der fehlenden lückenlosen Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit ein. Zu Recht stellte die Krankenkasse die Zahlung ein, bestätigte das Landessozialgericht. Der Patient sei selbst für die Verspätung verantwortlich. Der Untersuchungstermin sei nicht auf Betreiben der Arztpraxis verschoben worden. Auch habe es keinen Arzt-Patienten-Kontakt gegeben, der zu einer Bescheinigung führte. Mit der Ärztin kurz auf dem Flur gesprochen zu haben, reiche nicht aus. Ein Ausnahmetatbestand, etwa Geschäfts- oder Handlungsunfähigkeit, liege nicht vor. Auch habe der Versicherte nicht alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan, um rechtzeitig eine ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit zu erhalten. Eine Verschiebung des Termins durch die Praxismitarbeiter sei nicht erfolgt.

Informationen: www.dav-medizinrecht.de

Witwengeld nach acht Monaten Ehe

München/Berlin (DAV). Auch bei einer Ehe von nur acht Monaten Dauer kann die Witwe Anspruch auf Witwengeld haben. Über eine entsprechende Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Bayern vom 1. Juni 2022 (AZ: 14 B 20.1283) informiert die Arbeitsgemeinschaft Familienrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV).

Die Frau hatte ihren späteren zweiten Ehemann 2013 kennengelernt. 2014 zog sie bei ihm ein. Kurz darauf wurde bei dem Ruhestandsbeamten ein Karzinom diagnostiziert, da erfolgreich behandelt werden konnte. Nach der Scheidung der Frau reservierten sie und ihr Partner einen Hochzeitstermin für den 6. Juni 2016.

Ende Dezember 2015 wurden bei dem Mann Metastasen im Hirn diagnostiziert.

Im Januar 2016 gab das Paar beim Standesamt ihre Heiratsunterlagen ab. Bei dieser Gelegenheit teilte ihnen der Standesbeamte mit, dass sie sogleich heiraten könnten – das Paar entschied sich noch am selben Tag, das zu tun. Im August darauf starb der Mann.

Der Frau wurde Witwengeld verweigert. Es wurde eine Versorgungsehe vermutet, also eine Ehe, die nur oder überwiegend deswegen geschlossen wurde, um dem überlebenden Ehepartner eine Witwen- oder Witwerrente zu sichern. 

Vor Gericht hatte die Frau letztlich Erfolg. Die Richter gingen davon aus, dass das Paar vor allem aufgrund der inneren Verbundenheit und ihres Wunsches, als Ehepaar zusammenzuleben, heiratete. Die nicht-versorgungsorientierten Beweggründe hätten zumindest gleichgewichtig neben etwaigen Versorgungsaspekten bestanden. 

Als das Paar den Hochzeitstermin festlegte, hätten sich bei dem Mann laut behandelnder Ärzte keine Hinweise auf ein Fortbestehen der Tumorerkrankung mehr gefunden. Das spätere Ehepaar hätte also gerade nicht damit rechnen müssen, dass der Mann lebensbedrohlich erkrankt sein könnte. Darüber hinaus habe die Frau auch in der Zeit der ersten Erkrankung mit ihrem Partner weiterhin zusammengelebt und ihre Scheidung vorangetrieben. 

Vor diesem Hintergrund spreche die Tatsache, dass die Ehe nicht wenigstens ein Jahr gedauert habe, nicht gegen die Bewilligung von Witwengeld.

Information: www.dav-familienrecht.de

Keine Opferentschädigung, wenn aggressive Reaktion provoziert wurde

Stuttgart/Berlin (DAV). Eine Opferentschädigung erhält nicht, wer die aggressive Reaktion selbst provoziert hat. Außerdem bedarf es dafür eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs mittels einer physischen Einwirkung auf das Opfer. Das Rechtsportal „anwaltauskunft.de“ informiert über eine Entscheidung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15. September 2022 (AZ: L 6 VG 1148/22). Kritik kommt von Sozialrechtsanwält:innen.

Die im August 1961 geborene, schwerbehinderte Klägerin beantragte im Mai 2019 Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Sie machte geltend, seit 2008 mit ihrem Ehemann verheiratet zu sein und bereits seit ihrem Einzug in sein Haus im August 1998 psychischen Stress mit ihm zu haben. Im Januar 2017 sei die Situation zu Hause völlig eskaliert.

Sie habe ihn an diesem Tag wieder damit konfrontiert, dass er psychisch sehr krank sei. Daraufhin sei er aggressiv und wütend geworden, habe sie angeschrien, dass er gesund sei, und sie beschimpft. Auch hätte er sie dreimal umgestoßen, wodurch sie glücklicherweise nicht verletzt worden sei. Sie erlebe ein 20jähriges Martyrium durch ihren Ehemann. Sie würde erniedrigt, beschimpft und erlebe Aggressivität. Der Angriff vom Januar 2017 sei der Gipfel der erlebten Gewalt durch ihren Ehemann gewesen. Kurz darauf habe sie fluchtartig die Wohnung verlassen und sei seitdem nicht mehr dorthin zurückgekehrt.

Die Frau erstattete zwei Wochen später Strafanzeige gegen ihren Mann.

Dieser schilderte die Situation bei der Staatsanwaltschaft wiederum anders. Er habe bereits im Sommer 2016 seiner Ehefrau mitgeteilt, dass er sich trennen wolle. Im Dezember 2016 habe er sie gebeten, sich eine eigene Wohnung zu suchen und aus seinem Haus auszuziehen. Auch habe sie sein Schlafzimmer als Rückzugsraum im Januar 2017 nicht akzeptiert, sondern mit ihm diskutieren wollen. Dabei hätte sie ihn auf sein Bett geschubst und sein Zimmer auch auf sein Bitten und weitere Aufforderungen hin nicht verlassen. Um sich gegen ihre weiteren Attacken zu wehren, habe er sie vor sich hergeschoben, um sie so aus seinem Schlafzimmer zu entfernen. Hierbei sei sie hingefallen. Er habe sich lediglich gegen die Nötigung durch seine Ehefrau verteidigt.

Die Staatsanwaltschaft stellte das Ermittlungsverfahren ein. Es stehe letztlich Aussage gegen Aussage. Das Land lehnte eine Beschädigtenversorgung ab.

Auch beim Landessozialgerichts blieb die Frau erfolglos. Schon nach den Schilderungen der Frau selbst habe sie keine gesundheitliche Schädigung erlitten. Ihr Mann habe gegenüber der Staatsanwaltschaft ausführlich und ohne Belastungstendenzen geschildert, dass sie es gewesen sei, die nicht akzeptiert habe, dass er sich von ihr trennen und nicht mehr mit ihr habe sprechen wollen. Das Gericht berücksichtigte auch, dass die Frau selbst angegeben hatte, dass sie mit ihm über seine Krankheit habe reden wollen, und er daraufhin aggressiv geworden sei. Daher seien Entschädigungsansprüche auch wegen Unbilligkeit aufgrund ihres selbstgefährdenden Verhaltens ausgeschlossen. Da sie von seinem Trennungswunsch gewusst habe, habe es auch keinen sachlichen Grund gegeben, überhaupt ein Gespräch über seine vermeintliche Erkrankung zu initiieren.  

Auch die Angabe, jahrelang unter psychischer Gewalt ihres Ehemannes gelitten zu haben, änderte an der Entscheidung nichts. Für das OEG sei ein tätlicher Angriff erforderlich. Für die Annahme eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs reiche eine objektive Gefährdung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit einer anderen Person ohne physische Einwirkung nicht aus. Denn nach dem gesetzgeberischen Willen sollten ausschließlich Fälle der sogenannten Gewaltkriminalität einbezogen werden, die durch körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person einhergehen. Die Frau habe im Ermittlungsverfahren aber selbst angegeben, dass es während der Ehe nur zu verbalen Auseinandersetzungen mit ihrem Ehemann gekommen sei.

Diese Art der Rechtsprechung wird nach Ansicht der Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) zu Recht kritisiert. Es wird der Eindruck erweckt, dass Frauen in Fällen häuslicher Gewalt „wegducken“ sollten. In Gewaltbeziehungen müsse immer klar sein, wer der Aggressor und wer das Opfer ist.

Informationen und eine Anwaltssuche: www.anwaltauskunft.de

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lPosttraumatische Belastungsstörung bei Bahnmitarbeiter durch Erleben eines Gleissuizids

 

Darmstadt/Berlin (DAV). Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) kann nach dem Erleben eines Gleissuizids bei einem Bahnmitarbeiter vorliegen. Daher muss die gesetzliche Unfallversicherung die PTBS als Unfallfolge und damit als Arbeitsunfall anerkennen. Das Rechtsportal „anwaltauskunft.de“ informiert über eine Entscheidung des Hessischen Landessozialgericht vom 2. Juni 2022 (AZ: L 3 U 146/19).

Ein 52-jähriger Kundendienstmitarbeiter der Deutschen Bahn gab am Bahnsteig einem Mann Auskunft. Der Mann rannte dann aber vor den Zug. Nachdem der angefahrene Zug gestoppt hatte, fand der Mitarbeiter den zweigeteilten Leichnam.

Nach einer kurzen Arbeitsunfähigkeit nahm der Mitarbeiter seine Tätigkeit zunächst wieder auf. Er litt aber an Flashbacks, Albträumen und Schlafstörungen. Die ihn später behandelnden Fachärzte und Psychotherapeuten diagnostizierten eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Der mittlerweile voll erwerbsgeminderte Versicherte beantragte gegenüber der Unfallversicherung Bund und Bahn die Anerkennung als Arbeitsunfall.

Die Unfallversicherung stellte als Unfallfolge aber nur eine vorübergehende akute Belastungsreaktion fest. Sie bestritt, dass die aktuellen Beschwerden des Klägers etwas mit dem Unfall zu tun hätten. Sie seien vielmehr unfallunabhängig. Gegen eine PTBS als Folge des Unfalls spreche, dass der Versicherte zunächst lediglich zwei Wochen arbeitsunfähig gewesen sei und danach weitergearbeitet habe. Auch habe der Versicherte weitere Schicksalsschläge erlitten, die ebenfalls als Ursachen zu berücksichtigen seien.

Der Mann war mit seiner Klage erfolgreich. Das Landessozialgericht verurteilte die Unfallversicherung, eine PTBS als weitere Unfallfolge und damit als Arbeitsunfall anzuerkennen. Die Diagnosekriterien einer PTBS seien erfüllt. Das Unfallereignis sei ein objektiv schwerwiegendes Ereignis. Außerdem leide der Mann unter Flashbacks und Albträumen. Auch vermeide der Kläger Orte, die mit dem traumatischen Erlebnis verbunden seien, insbesondere Bahnhöfe und Bahnsteige.

Ohne den Vorfall würde der Mitarbeiter nicht an der PTBS leiden. Den konkurrierenden Ursachen - Tod des Bruders und weitere Schicksalsschläge - kämen keine überragende Bedeutung zu, wie der gerichtliche Sachverständige überzeugend dargelegt habe. Der Bruder des Versicherten sei erst ein Jahr nach dem Arbeitsunfall gestorben.

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Keine Vollwaisenrente bei Tod der Pflegeeltern

Essen/Berlin (DAV). Solange noch die leiblichen Eltern leben, hat ein Pflegekind nach dem Tod der Pflegeeltern keinen Anspruch auf Vollwaisenrente. Auch dann nicht, wenn es bereits Halbwaisenrente nach dem Tod eines Pflegeelternteils erhalten hat. Nur wenn kein (theoretischer) Anspruch gegen unterhaltsverpflichtete Elternteile mehr besteht, kann Vollwaisenrente verlangt werden. Dies entschied das Landessozialgericht NRW (LSG) im Urteil vom 14.06.2022 entschieden (L 14 R 693/20), wie das Rechtsportal „anwaltauskunft.de“ informiert.

Der Kläger kam nach der Geburt zu Pflegeeltern. Seine leiblichen Eltern leben noch. Nach dem Tod des Pflegevaters gewährte ihm der Rentenversicherungsträger eine Halbwaisenrente. Nachdem die Pflegemutter starb, beantragte er eine Vollwaisenrente. Gegen den ablehnenden Bescheid klagte der Mann.

Das Landessozialgericht wies die Klage ab. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Vollwaisenrente. Nur wer keinen Elternteil mehr habe, der - ungeachtet der wirtschaftlichen Verhältnisse - unterhaltspflichtig sei, könne Vollwaisenrente beanspruchen. In diesem Sinne sei der Kläger keine Vollwaise, schließlich würden seine - dem Grunde nach unterhaltspflichtigen - leiblichen Eltern noch leben. Es entspreche erkennbar nicht dem gesetzgeberischen Willen, dass Pflegekinder nach Versterben beider Pflegeelternteile sowohl ein Anspruch auf Vollwaisenrente als auch grundsätzlich ein Unterhaltsanspruch gegen die leiblichen Eltern zustünden. Damit wären sie im Gegensatz zu Kindern, die bei ihren Eltern leben, doppelt abgesichert.

Informationen und eine Anwaltssuche: www.anwaltauskunft.de

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Krankenkasse muss teure maßgefertigte Prothese aus Silikon zahlen

Darmstadt/Berlin (DAV). Hilfsmittel für Behinderte sollen deren Nachteile ausgleichen. Man hat aber auch dann einen Anspruch gegen die gesetzliche Krankenversicherung, wenn das Hilfsmittel die Funktionsausfälle nur teilweise ausgleicht. Eine Versicherte mit Teilhandverlust bekam eine individuelle Finger-Handprothese aus Silikon zugesprochen. Es reicht, wenn die Greiffähigkeit funktionell verbessert wird. Auf die Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts vom 23. September 2021 (AZ: L 8 KR 477/20) weist die Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) hin.

Bei der 34-jährigen Klägerin war seit Geburt die linke Hand fehlgebildet. Aufgrund operativer Maßnahmen lag ein teilweiser Verlust der Hand vor. Der Mittelfinger fehlte komplett, Daumen, Zeige- und Ringfinger waren nur zur Hälfte vorhanden. Die als Arzthelferin tätige Frau ist Rechtshänderin. Ihr wurde eine individuelle Finger-Handprothese aus Silikon verordnet (Kosten rund 17.600 €). Die Krankenversicherung lehnte dies ab, es bestünde keine medizinische Notwendigkeit. Auch gleiche die Prothese keine verloren gegangenen oder eingeschränkten Funktionen der fehlgebildeten Hand aus. Sie habe keine Gelenke und sei vollständig unbeweglich. Aus Sicht der Krankenversicherung sollten vor allem Teile der linken Hand möglichst naturgetreu und ästhetisch nachgebildet werden.

Das Gericht gab der Klage statt. Es stellte fest, dass ein erheblicher Behinderungsausgleich durch die Prothese erfolgt. Die Krankenkasse wurde zur Versorgung mit der Finger-Handprothese verpflichtet. Damit könne die Frau die erheblich herabgesetzte Funktionsfähigkeit der linken Hand teilweise ausgleichen. Laut eines Sachverständigen könnte mit der Silikonprothese aufgrund der erhaltenen Beweglichkeit in den Grundgelenken eine deutliche funktionelle Verbesserung der Greiffunktionen der linken Hand herbeigeführt werden. Die Elastizität des Silikons ermögliche das Greifen größerer Gegenstände, soweit diese nicht allzu schwer seien. Auch könnten der Pinzetten-, Zangen-, Dreipunkt- und Schlüsselgriff verbessert werden. Dies gelte gleichermaßen für die Arbeiten mit Computertastatur und Computermouse, Trackball und berührungsempfindlichen Bildschirmen. Dadurch könne sie auch Handy und Telefon halten, so dass sie mit ihrer rechten Hand leichter Daten eingeben könne.

Ein anderslautendes Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) sah das Gericht als nicht maßgebend an. Dieses sei lediglich nach Aktenlage und nur auf der Basis von Fotos der betroffenen Hand erstellt worden. Da hier also nicht lediglich die Ästhetik im Vordergrund stehe, habe die Frau diesen Anspruch.

Informationen: www.dav-sozialrecht.de

Kein Elektrorollstuhl für Blinde bei „MS“?

Celle/Berlin (DAV). Multiple-Sklerose (MS)-Patienten haben Anspruch auf einen Elektrorollstuhl. Dieser darf ihnen auch nicht wegen Blindheit verweigert werden. So entschied das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen am 4. Oktober 2021 (AZ: L 16 KR 423/20), wie die Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) informiert.
Der 57-jährige Mann leidet an MS, in deren Folge konnte er immer schlechter gehen. Zunächst hatte er einen Greifreifen-Rollstuhl. Im Jahr 2018 verschlimmerte sich die Krankheit, und ein Arm wurde kraftlos. Den Rollstuhl konnte er seitdem nur noch mit kleinen Trippelschritten bewegen. Daher beantragte er bei seiner Krankenkasse einen Elektrorollstuhl. Diese lehnte den Antrag ab, da der Mann blind und damit nicht verkehrstauglich sei. Auch bei einem Elektrorollstuhl führe Blindheit generell zu einer fehlenden Eignung. Eine Eigen- und Fremdgefährdung bei Blinden könne nicht ausgeschlossen werden. Dafür könne und wolle die Kasse nicht haften.
Der Mann hingegen meinte, er habe sich mit dem Langstock schon früher gut orientieren können. Das habe er nun auch im Elektrorollstuhl trainiert. Einen Handrollstuhl könne er nicht mehr bedienen. Ohne fremde Hilfe könne er das Haus sonst nicht mehr verlassen.
Das Landessozialgericht verpflichtete die Krankenkasse, einen Elektrorollstuhl zu gewähren. Es sei inakzeptabel, wenn der Mann auf die behelfsmäßige Fortbewegung mit dem bisherigen Rollstuhl verwiesen werde. Sehbeeinträchtigungen seien kein genereller Grund, eine Verkehrstauglichkeit bei Elektrorollstühlen abzulehnen. Auch das Argument der Gefährdung überzeugte das Gericht nicht. Etwaige Restgefährdungen seien dem Bereich der Eigenverantwortung zuzuordnen und in Kauf zu nehmen. Zentrale Bedeutung bei der Entscheidung hatte der neue, dynamische Behindertenbegriff. Es sei die Aufgabe des Hilfsmittelrechts, dem Behinderten ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und nicht, ihn von sämtlichen Lebensgefahren fernzuhalten und ihn damit einer weitgehenden Unmündigkeit anheimfallen zu lassen.Informationen: www.dav-sozialrecht.de

Stadt muss Kosten für Lebensunterhalt und Unterkunft im Frauenhaus tragen

Stuttgart/Berlin (DAV). Im Rahmen der Sozialhilfe haben Betroffene Anspruch darauf, dass die Kosten für den Lebensunterhalt und die Unterkunft in einem Frauenhaus übernommen werden. Die Kosten muss der Sozialhilfeträger übernehmen, in deren Stadt oder Landkreis sich das Frauenhaus befindet; nicht derjenige aus dem Ort, woher die Betroffenen zogen. Dies ergibt sich aus einer Entscheidung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. März 2021 (AZ: L 7 SO 3198/19).

In dem von der Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) mitgeteilten Fall suchten die 1982 geborene Klägerin und ihr 2008 geborener Sohn Zuflucht in einem Frauenhaus in Tübingen. Dort schloss die Mutter einen Mietvertrag über ein Zimmer zu einer täglichen Bruttomiete von rund 20 €. Zunächst bezogen sie und ihr Sohn „Hartz IV“. Seit April 2017 bezog die Frau eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung von monatlich rund 566 EUR. Vorher wohnten sie im Zollernalbkreis.

Die Stadt Tübingen meinte, nicht der Sozialhilfeträger zu sein. Sie verwies die Frau auf die aus ihrer Sicht bestehende örtliche Zuständigkeit des Zollernalbkreises. Dieser sei für die Gewährung von ergänzenden Sozialhilfeleistungen zuständig. Vor Aufnahme in dem Frauenhaus habe sie dort ihren letzten gewöhnlichen Aufenthalt gehabt. Der Zollernalbkreis lehnte seinerseits den Antrag der Mutter auf Gewährung von Sozialhilfe ab. Seit ihrem Umzug in das Frauenhaus sei die Stadt Tübingen als örtlicher Sozialhilfeträger zuständig.

Das Gericht beendete dieses Zuständigkeitsmikado: Zuständig sei nunmehr die Stadt Tübingen.

Für die Erbringung der Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt sei die Kommune zuständig, in deren Bereich sich die Betroffenen tatsächlich aufhielten. Es würden auch nicht die Sonderregelungen bei stationärer Leistung oder ambulant betreutem Wohnen greifen. Nur dann sei der Sozialhilfeträger zuständig, wo die Antragsteller vorher wohnten. Mit der Unterbringung im Frauenhaus erhielten sie keine „stationäre Leistung“. Das Angebot eines Frauenhauses sei nicht auf die „Versorgung“ der Frauen innerhalb der Räumlichkeiten, sondern auf den nach Außen gerichteten Schutz vor Bedrohung angelegt. In dem Frauenhaus in Tübingen wären die Frau und ihr Sohn für ihre Versorgung vollständig selbst verantwortlich. Sie hätten im Frauenhaus auch keine Leistungen in Form ambulanter betreuter Wohnmöglichkeiten bezogen.

Informationen: www.dav-sozialrecht.de

Unterkunftskosten bei Hartz IV: Dürfen Jobcenter eigenständig berechnen?

Saarbrücken/Berlin (DAV). Empfänger von "Hartz IV" können auch einen Anspruch auf Unterkunftskosten haben. Bei der Berechnung dürfen Jobcenter die Ansprüche nicht gemäß ihrer selbst erstellten Konzepten kürzen und auf die dabei errechneten Grenzwerte beschränken ("Grundsicherungsrelevante Mietspiegel"). Das Rechtsportal anwaltauskunft.de informiert über mehrere Entscheidungen des Sozialgerichts Saarland vom 22. Februar 2021 (AZ: S 21 AS 821/19).

Mehrere Jobcenter gewährten Unterkunftskosten für Hartz-IV-Empfänger nur nach einem von ihnen selbst erstellten Konzept. Die angemessene Höhe der Kosten hatten die Jobcenter selbst festgelegt. Dagegen haben die Kläger vor dem Sozialgericht für das Saarland erfolgreich geklagt.

Diesem System machte das Sozialgericht ein Ende. Es stellte fest, dass dieses und ihre Fortschreibungen nicht den Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung entsprechen und damit „nicht schlüssig“ sind. Das Vorgehen der Jobcenter, Vergleichsräume mittels eines sogenannten „clusteranalytischen Verfahrens“ zu bilden, sei nicht mit den Entscheidungen des Bundessozialgerichts vereinbar. Dies hat zur Folge, dass zur Ermittlung der angemessenen Unterkunftskosten grundsätzlich die Tabellenwerte nach dem Wohngeldgesetz zuzüglich eines Sicherheitszuschlags von 10 % und damit regelmäßig höhere Werte heranzuziehen sind.

Grundsätzlich bleibe es möglich, darüber hinaus gehende Unterkunftskosten zu übernehmen. Voraussetzung sei, dass die leistungsberechtigte Person tatsächlich keinen Wohnraum zu diesem Wert gefunden hat.

Informationen: www.dav-sozialrecht.de

Krankenkasse muss Spracherkennung für Förderschülerin übernehmen

Celle/Berlin (DAV). Behinderte Kinder haben einen Anspruch gegen die gesetzliche Krankenkasse, bei Bedarf mit einer Spracherkennung ausgestattet zu werden. Damit soll die Schulfähigkeit gesichert werden. Dies ergibt sich aus einer Entscheidung des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 1. April 2021 (AZ: L 4 KR 187/18). Betroffene müssen sich nicht auf den Schulträger verweisen lassen, erläutert die Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV). Der Anspruch kann sich auch auf die für die Allgemeinheit entwickelte Software ‚Dragon‘ erstrecken.

Die Eltern einer damals neunjährigen Förderschülerin, die an spastischen Lähmungen leidet, klagten gegen die gesetzliche Krankenkasse. Nur unter größter Anstrengung konnte die Tochter einen Stift halten und schreiben. Im Jahre 2016 beantragten die Eltern u.a. eine Computerausstattung mit dem Programm ‚Dragon Professional‘ für Schüler für 595 €. Die Kasse lehnte den Antrag ab. Bei der Software handele es sich um ein Produkt für die Allgemeinbevölkerung und nicht um ein Hilfsmittel für Behinderte. Für sogenannte „Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens“ sei die Krankenkasse nicht zuständig. Außerdem könne das Mädchen die Spracherkennung unter Microsoft-Windows nutzen. Für die barrierefreie Ausstattung von Schulen sei der Schulträger und nicht die Krankenkasse zuständig.

Die Eltern hielten die betreffende Software für ein wichtiges Hilfsmittel, da längere Schreibaufgaben bisher von einer Integrationskraft übernommen wurden.

Die Klage ist erfolgreich. Das Gericht verurteilte die Krankenkasse zur Erstattung der Kosten. Zu den Aufgaben der gesetzlichen Krankenkassen gehöre auch die Herstellung und Sicherung der Schulfähigkeit. Benötige ein Schüler aufgrund einer Behinderung ein Hilfsmittel, um am Unterricht teilnehmen oder die Hausaufgaben erledigen zu können, habe die Kasse dieses Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen. Das Gericht betonte auch, dass bei Kindern ein großzügigerer Maßstab anzulegen sei. So könne deren weiterer Entwicklung Rechnung getragen werden. Daher könne die Software hier als Hilfsmittel für Behinderte bewertet werden, das der Integration diene. Das Mädchen könne auch nicht auf die Spracherkennung von Microsoft-Windows verwiesen werden, da diese jedenfalls 2016 noch nicht ausreichend entwickelt war. Das Gericht betonte, dass der Schulträger für die Versorgung nicht zuständig sei.

Informationen: www.dav-sozialrecht.de