Hartz IV-Regelungen in Karlsruhe „gekippt“

Diese Entscheidung bedeutet ein Meilenstein auf dem Rechtsgebiet der existenzsichernden Leistungen. Sie anerkennt erstmals das Grundrecht auf ein soziokulturelles Existenzminimum, das über die rein physische Absicherung hinaus auch die Gemeinschaftsbezogenheit der Menschen und den daraus wurzelnden angemessenen Bedarf würdigt. Gleichzeitig bestimmt das Gericht den notwendigen Umfang verfassungsgerichtlicher Kontrolle, die erst die Realisierung des Grundrechts für die Hilfebedürftigen ermöglicht.


Konkret entschied das Gericht, dass weder die Regelleistung für Erwachsene in verfassungsgemäßer Weise ermittelt wurde, noch das Sozialgeld für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres. Sehr deutlich wird gerügt, dass Schätzungen „ins Blaue hinein“ keine realitätsgerechte Bedarfsermittlung darstellen. Da die bisher festgesetzten Leistungen nicht als evident unzureichend angesehen werden, bleiben die verfassungswidrigen Normen bis zu einer Neuregelung, die der Gesetzgeber bis zum 31. Dezember 2010 zu treffen hat, weiterhin anwendbar. Ein etwa pflichtwidrig später erlassenes Gesetz wäre schon zum 1. Januar 2011 in Geltung zu setzen.

Hinsichtlich des Sozialgeldes für Kinder macht das Gericht deutlich, dass deren spezifische Bedarfe (wozu insbesondere der Schulbedarf gehört) konkret zu ermitteln sind, was bisher nicht der Fall war. Den Verfassungsverstoß sieht das Gericht auch durch die Mitte 2009 in Kraft getretenen Regelungen in §§ 74 und 24 a SGB II nicht als ausgeräumt.

Schließlich verlangt das Gericht von Verfassungswegen für das SGB II die Aufnahme einer "Öffnungsklausel“, durch die in Härtefällen ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung eines zur Deckung unabweisbaren laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs einzuräumen ist. Um insoweit die Gefahr einer Grundrechtsverletzung abzuwenden, räumt das Urteil ab dem 9. Februar einen unmittelbaren verfassungsrechtlichen Anspruch auf solche Leistungen ein.

Nach den Karlsruher Korrekturen an Hartz IV werden auch weitere Einzelfragen verfassungsrechtlich zu prüfen sein, so etwa der Umfang von Leistungskürzungen auf Grund von Sanktionen, besonders bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Es ist ferner ab sofort möglich, in Härtefällen bei den Leistungsträgern nach dem SGB II unter Hinweis auf das Urteil Leistungen zu beantragen. Soweit in der Vergangenheit in solchen Fällen nur Darlehen bewilligt wurden, sollte deren Erlass beantragt werden. Es ist vor allem dem Hessischen Landessozialgericht zu verdanken, mit seinem ganz umfassenden Vorlagebeschluss nicht nur einer eingehenden verfassungsrechtlichen Überprüfung den Weg gebahnt, sondern auch dazu beigetragen zu haben, dass künftig Fragen der Verteilungsgerechtigkeit mit größerer Transparenz behandelt werden.