Eine Stadt hat ihre Unschuld verloren

Emden (Ostfriesland) - Die Stadt hat ihre Unschuld verloren. Der Blick auf die Straßen und Menschen ist zwangsläufig ein anderer. Ausgangspunkt war ein schreckliches Verbrechen. Ein Sexualverbrechen. An einem 11 Jahre alten Mädchen. Ihr Name war Lena. Eine Tötung zur Verdeckung einer Straftat – Mord.

Ein Sexualverbrechen ist immer abscheulich und menschenverachtend. Es an einem Kind zu begehen, ist grauenvoll, zynisch und zerstörerisch – Dieses Kind dann auch noch zu töten – diese zwangläufige Steigerung des Unsäglichen ist nicht auszuhalten. Und doch, diese Tat, die hier in Emden, mitten in der Stadt am hellen Tage passiert ist, hat das Bild der Stadt nicht verändert.

Eine solche Tat wird von einem einzelnen Menschen verübt, nicht von der Stadt, es ist nicht ihr und ihren Einwohnern zuzurechnen, die Stadt teilt damit nur die schlimme Erfahrung mit anderen Städten, anderen Orten in Deutschland, in Europa, auf der Welt. Aber dann passieren eine Reihe von Dingen, die Angst machen und Vertrauen zerstören und den Blick freigeben Mediengeilheit, auf Gruppen- und Massensuggestion, Kopf-ab-Mentalität und Herdentrieb.

Die Polizei verhaftet medienwirksam einen Jungen. Er wird dem Haftrichter vorgeführt und weil er kein ausreichendes Alibi hat, in Untersuchungshaft genommen und – natürlich – verhört. Es gilbt Bilder von ihm im Netz und bald auch den Namen und die Adresse. Eine Hetzjagd beginnt. Menschen, Bürger der Stadt skandieren im Netz und auf der Straße, fordern den Kopf dieses 17-jährigen, bar jeder Kenntnis der Zusammenhänge und ohne den geringsten Nachweis seiner Schuld.

Die sogenannten „sozialen Netzwerke", die auch zu weniger brisanten Themen einen gewaltigen Gruppendruck auf ihre „Nutzer" ausüben, geben die Plattform ab zu gemeinsam verabredeten, verbundenem Handeln (und entsprechen so der Definition von „sozial") zum Aufruf zur Selbst- und Lynchjustiz. Die Aufforderung, den vermeintlichen Täter aus dem Polizeigewahrsam zu holen und zu erschießen, wurde geschrieben und geschrien. Insbesondere von ca. 50 Leuten, die vor dem Emder Polizeigebäude aufmarschierten und die Lynchjustizparolen skandierten. Stundenlang. Von da an kam zu der tiefen Betroffenheit über das Verbrechen die Erkenntnis, daß vor den eigenen Augen die Grundfesten des Rechts erschüttert, die Unschuldsvermutung und die Unabhängigkeit der Justiz, eherne Säulen der rechtsstaatlichen Demokratie mit Füßen getreten werden und eine Tabugrenze überschritten wurde, die Angst macht, da sich so etwas bei ähnlichen, auch geringeren Anlässen wiederholen mag.

Die Presse, die tags drauf von der lautstarken Forderung nach Herausgabe des angeblichen Täters berichtete, sprach sofort vom Mob, der dort in Erscheinung getreten sei. Nein, das war kein Mob, jedenfalls zählte jeder einzelne noch nicht dazu, bevor sie sich entschlossen, vor das Polizeigebäude zu ziehen in der Absicht, einen Jugendlichen umzubringen, würde man denn seiner habhaft werden. Nein, da waren das alles noch Menschen in der Maske ehrbarer Bürger.

Diese Gesinnung, die dort zutage trat, ist nur allzu bekannt. Bedeutungslos wird dabei die Tatsache, dass der Jugendliche, dessen Tod diese Menschen gefordert haben, unschuldig ist. Ja, der Blick auf diese Stadt ist ein anderer geworden. Die Politik, die Staatsanwaltschaft und die Polizei haben sofort reagiert und die Handlungen auf das schärfste verurteilt und die Aufnahme von Ermittlungen angekündigt – wehret den Anfängen.